Betrifft: Offener Brief
Bezug: Artikel in Die Presse vom Donnerstag, 04. Juni 2020 Seite 2; Leitartikel
Sehr geehrten Herrn Martin Fritzl
Inlandsredaktion Die Presse per E-Mail
Sehr geehrter Herr Fritzl!
Danke, dass Sie sich in zahlreichen Beiträgen in der Zeitung Die Presse mit dem Thema Bundesheer intensiv beschäftigen. Das machen leider zu wenige österreichische Medien und Journalisten / Journalistinnen. Allerdings – so meine Erkenntnis – gehen Sie nicht immer von richtigen Annahmen aus und übersehen auch manche relevante Aspekte in Ihren Ausführungen. Das kann zu Trugschlüssen führen.
Diesen offenen Brief schreibe ich daher nicht als Kritik an Ihnen und Ihrer journalistischen Arbeit, vielmehr verstehe ich ihn als Dialogangebot und biete Ihnen diesen auch gerne an.
So zum Beispiel scheinen Sie die Meinung zu vertreten, dass Landesverteidigung „nach Schweizer Vorbild“ bedingt, dass es genauso gemacht werden muss. Das aber würde bedeuten, dass die für Österreich notwendigen speziellen Erfordernisse unberücksichtigt bleiben.
So etwa die beim Wiedererstehen der Republik Österreich gegebene Lage Österreichs unmittelbar an der Grenze zum sowjetischen Einflussbereich. Das ist ein gravierender Unterschied zur Schweiz, die Österreich immer als Puffer zwischen sich und einer Bedrohung durch den Warschauer Pakt sehen konnte und auch gesehen hat. Die Schweiz hatte also immer eine entsprechende Vorwarn- und damit Vorlaufzeit, die Österreich nie haben konnte und daher andere Lösungen für seine Verteidigung suchen musste.
Wir haben diese auch gefunden: Durch die Konstruktion einer bestimmten Anzahl an einsatzbereiten Verbänden und weiteren bei Bedarf aufbietbaren Kräften, unsere Miliz.
Was die einsatzbereiten Verbände anlangt fand man folgende Lösung: Man schuf einen mit Rekruten befüllten Kader-Rahmen, der einerseits die Rekruten ausbildete, andererseits ab einem bestimmten Zeitpunkt als einsatzbereiter Verband zur Verfügung stand. Bei einer entsprechenden Staffelung der Einrückungstermine und Dauer der Inanspruchnahme der Grundwehrdiener waren also zum Beispiel von 3 Panzerbataillonen 1 einsatzbereit, 1 mit der Ausbildung neuer Rekruten und 1 „ohne“ Rekruten (mit Kaderfortbildung, Urlaubs- und Zeitausgleichabbau etc.) beschäftigt. Ökonomischer und auch personalfreundlicher geht es wohl nicht, oder?
Dabei hätten die beiden nicht einsatzbereiten Verbände durch Wiedereinberufung ihrer zuletzt abgerüsteten und ausgebildeten Rekruten rasch wieder einsatzbereit gemacht werden können.
Und: Jeder Einsatzverband hatte auch einen Milizanteil! So durfte ich selbst Kommandant eines Panzergrenadierbataillons sein, das zuletzt über 4 Panzergrenadierkompanien verfügte. 3 aktive und 1 Milizkompanie, die auch regelmäßig und mit ihrem Gerät (das der aktive Verband lagerte und wartete) übte.
Wir waren optimal auf unsere spezielle Lage hin orientiert, ökonomisch und milizartig organisiert. Warum haben manche damit ein Problem?
Recht haben Sie (wie viele andere auch), wenn Sie den derzeitigen Zustand des Bundesheeres kritisieren. Sowohl was die Kritik an materieller Ausstattung als auch was die personelle Stärke des Bundesheeres anlangt, stimme ich Ihnen absolut zu. Mit einer Einschränkung: Wenn die Politik beschlossen hat, bei den Sicherheitsausgaben zu sparen, scheint es nicht sinnvoll, ein System zu verlangen, wie es die Schweiz sich leistet (und wohl auch leisten kann).
Die Frage, die sich uns in Österreich dringend stellt, lautet: Wie kann man kostengünstig und in allen derzeitigen Bedrohungsmöglichkeiten die Verteidigungsfähigkeit Österreichs so organisieren, dass Aussicht auf Erfolg besteht?
Weder Sie noch andere Journalistinnen / Journalisten stellen genau diese Frage. Stattdessen werden manchmal Details aufgegriffen, allerdings meist ohne die bestehenden Zusammenhänge zu erfassen, wodurch sich etwa auch (politisch) Druck dahingehend aufbaut, das Bundesheer „zu Tode zu reformieren“, statt politischen Konsens zu einem Konzept herbeizuführen und dessen Umsetzung sicher zu stellen.
Ich würde mir beim Lesen Ihrer Artikel erwarten, dass Sie den Leserinnen und Lesern eine qualifizierte Basis für deren Meinungsbildung gerade in dieser Frage bieten. Es entsteht bei mir leider der Eindruck, dass Sie eher eine bestimmte Meinung vertreten und diese ohne Berücksichtigung wesentlicher Zusammenhänge zu untermauern versuchen. Ich bin gerne bereit, darüber mit Ihnen eine Diskussion zu führen.
Mit besten Grüßen!
Dr. Siegfried Albel, Obst i.R. Präsident der IGBO